Seit die „Dietzenbacher Tafel“ im Jahr 2005 gegründet wurde, fungiert Christel Germer als deren Vorsitzende. Der sozial engagierte Verein organisiert die Verteilung gespendeter Lebensmittel und anderer Waren des täglichen Bedarfs an Menschen, die sich regelmäßige reguläre Einkäufe nicht leisten können. An jedem Freitag beginnt um 10 Uhr im katholischen Gemeindezentrum an der Offenbacher Straße die Verteilung der Produkte.
DIETZENBACH. Seit zehn Jahren gibt es die „Tafel“ in der Kreisstadt. Ein Grund zum Feiern, weil Woche für Woche eine stattliche Lebensmittel-Menge nicht in der Mülltonne landet, sondern vielmehr bei Menschen, die beim Thema „Einkaufen“ mit jedem Euro scharf kalkulieren müssen? Oder doch eher ein Anlass, das Projekt kritisch zu hinterfragen? Frei nach dem Motto: Eine moderne Form der Armenspeisung, die die soziale Schieflage nicht beseitigt, sondern die Spaltung der Gesellschaft immer wieder aufs Neue bestätigt. Das Füllhorn mit der Aufschrift „Almosen“: Hat es ewig Konjunktur?
Christel Germer war und ist eine sozial engagierte Frau. Schon zu jener Zeit, als sie als Elternbeirats-Vorsitzende der Heinrich-Mann-Schule (HMS) ins öffentliche Leben eingebunden war, mischte sie sich ein, bezog Stellung und agierte mit Ideen und Tatkraft.
Und so ging es weiter: Die Kommunalpolitik lockte. Für die CDU engagierte sich die gebürtige Wienerin, die seit 1972 in Dietzenbach lebt, einige Jahre lang als Stadtverordnete. Seit 2011 gehört sie als ehrenamtliche Stadträtin dem Magistrat an.
Apropos „Ehrenamt“: Als die Kinder groß wurden, die Schulzeit zu Ende ging und die Betätigung unter dem Dach der HMS allmählich auslief, tat sich ein neues Betätigungsfeld auf. „Das Tafel-Projekt stand damals in den Startlöchern. Es wurde ein führender Kopf gesucht, jemand nannte meinen Namen, ich hab nicht ‚Nein‘ gesagt – ja, so kamen die Dinge ins Rollen“, erinnert sich Germer an das Jahr 2005.
Seit einer Dekade steht sie nun an der Spitze des Wohltätigkeits-Vereins, kümmert sich federführend um organisatorische Abläufe und „eine Menge Bürokratie, die so im Hintergrund zu erledigen ist“. Ein Räderwerk für rund 70 aktive, freiwillig und unentgeltlich engagierte Helfer ist in Schwung zu halten. Regelmäßig sind die Lagerhäuser von Lebensmittel-Ketten und Einzelhändlern anzusteuern. Ausrangierte, aber gleichwohl noch gut konsumierbare Produkte werden abgeholt und gelangen beim zur Institution gewordenen Freitagstermin im katholischen Gemeindezentrum St. Martin auf die besagte „Tafel“.
Um 10 Uhr beginnt die Ausgabe. Dann stehen sie Schlange: Menschen, die sich mit Bescheinigungen der Sozialbehörden als „bedürftig“ ausweisen können (Hartz-IVBezieher, Geringverdiener, Nicht-Erwerbsfähige, Senioren mit Mini-Renten) und für zwei Euro pro „Einkauf“ eine gut gefüllte Tüte erhalten, vollgepackt mit Brot, MilchProdukten, Konserven, Hygieneartikeln – je nachdem, was benötigt wird und gerade auf den Tischen zur Verteilung aufgestapelt ist.
Der Empfängerkreis, der von diesem Service profitiert, ist über die Jahre hinweg stetig angewachsen. Mittlerweile kommen rund 200 Personen pro Ausgabetag, um sich und ihre Angehörigen mit gespendeten Waren einzudecken. Mit dem Stichwort „steigende Nachfrage“ bestätigen die Dietzenbacher einen Trend, der bundesweit zu beobachten ist. Seit 2005 hat sich die Zahl derjenigen, die die Ausgabestellen zwischen Flensburg, Garmisch, Aachen und Görlitz ansteuern, verdreifacht. Gut 950 Mitgliedsvereine und -organisationen, die rund 1,5 Millionen Menschen bedienen, zählt der Bundesverband „Deutsche Tafeln“ derzeit.
Argumentierten seinerzeit, als die von SPD und Grünen geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit der Hartz-Gesetzgebung die Weichen für eine stärkere soziale Spreizung der Gesellschaft stellte, nicht wenige Politiker mit dem Hinweis, die „Tafeln“ seien segensreich, weil sie eine Art Überbrückungshilfe leisteten, bis der Arbeitsmarkt wieder in Schwung komme und die Zahl der „Bedürftigen“ dann ganz sicher sinken werde, so ist inzwischen klar, dass sich die Strukturen verfestigt haben. Trotz aktuell boomender Wirtschaft verharrt ein großes Segment der Bevölkerung im Status „materiell schlecht gestellt“. So flaut der Kreislauf nicht ab, sondern zirkuliert auf konstant hohem Niveau.
Wie sie diese Entwicklung bewertet, möchte ich von Christel Germer wissen. Indirekt gefragt: Ob sie sich eine Gesellschaft, die „Tafeln“ nicht nötig hat, wünscht? Oder ob sie diese Vorstellung als unrealistisch abtut? Wohl eher Letzteres. Sie betont den Aspekt „Lebensmittel gehören nicht auf den Müll“, verweist auf die Formel „Wir helfen ganz pragmatisch“ und lobt den Segen der guten Tat.
Ihre grundsätzliche Beurteilung mit Blick auf die Sozialpyramide hierzulande: „Wenn ich Obdachlose im Stadtbild sehe, beispielsweise in Frankfurt – das bedrückt mich schon, da gerate ich ins Grübeln. Aber ich meine eben auch, dass der Staat nicht untätig ist. Dass er Angebote macht für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite leben, dass er Unterstützung gewährt. Wohnraum wird finanziert, es gibt eine Grundsicherung… Doch zugleich muss eine Triebfeder für eigenverantwortliches Handeln erhalten bleiben, für das Bemühen, seine Lage selbst zum Besseren zu wenden.“
Diesen Tenor vorausgeschickt, äußert sich die Dietzenbacher „Tafel“-Vorsitzende zur großen, vielschichtigen Gruppe all jener Menschen, die ihr Freitag für Freitag begegnen. Ja, gewiss: Es gebe Beispiele, die ermutigend seien. Wenn etwa Kinder aus Familien, die über längere Zeit zur Klientel des Vereins zählten, eines Tages als Auszubildende mit der Aussicht auf einen Beruf und eine Aufstiegsperspektive den Absprung schafften – „dann freuen wir uns natürlich sehr, dass solche Aufbrüche möglich sind“, unterstreicht Germer im Namen der Helfer.
Doch sie will die Rahmenbedingungen nicht schönreden. Natürlich gebe es auch die Kehrseite der Medaille: Menschen, die über Generationen hinweg in einem Ghetto der Abhängigkeit verharrten. Dass bei einigen (wenigen?) eine Mischung aus Anspruchsdenken und Versorgungsmentalität mitschwinge: Auch das wolle sie nicht verschweigen. Es sei eben eine fortwährende Gratwanderung, ein Balance-Akt, der im Milieu der „Tafel“ in Anbetracht der schwierigen Verhältnisse von allen Beteiligten geleistet werden müsse.
Germer schätzt, dass es sich bei rund 60 Prozent der Waren-Empfänger um Migranten handelt. Womit sich trefflich eine Diskussion über ge- und misslungene Ansätze der Integration in den zurückliegenden Jahr(zehnt)en eröffnen ließe. Darüber hinaus – vor dem Hintergrund der Welle von Zufluchtsuchenden, die derzeit über Deutschland schwappt – darf auf der Zeitachse auch nach vorne gedacht und gefragt werden: „Was kommt da auf die ‚Tafeln‘ zu?“
Momentan sei die Situation diesbezüglich noch relativ entspannt, da die Versorgung für das Gros der Kriegs- und Armutsflüchtlinge anderweitig organisiert werde. Gleichwohl halte man sich in Dietzenbach noch einen kleinen Puffer in Reserve („Seit Anfang 2015 nehmen wir keine neuen Hartz-IV-Leute mehr an“), um mit den bestehenden, aber nahezu ausgereizten Kapazitäten im Bedarfsfall auch andere, zusätzliche, nicht minder auf Hilfe angewiesene Menschen bedienen zu können.
Das Thema „Flucht“ und die Art und Weise, wie auf EU-Ebene und von der Bundesregierung damit umgegangen wird, treibt Christel Germer einige Sorgenfalten auf die Stirn. Ihre Vorahnung ist düster: Dass reichlich Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen geleitet werde, sei zu befürchten, wenn es nicht gelinge, die aus dem Ruder gelaufene Situation wieder in geordnete, gedrosselte Bahnen zu leiten.
Doch das ist ein anderer, Zeitungsseiten füllender Brennpunkt. Freilich einer, der eng mit der Problematik „soziales Gefälle – Ruf nach Unterstützungsleistungen“ verknüpft ist. Vor diesem Hintergrund fällt die Prognose nicht schwer: An der „Tafelfront“ in Deutschland ist keine Entspannung in Sicht.
Von Jens Köhler
Info: Hierbei handelt es sich um ein reupload, der originale Bericht stammt von der Dreieich Zeitung und ist vom 11.10.2015